Psychomotorik macht Kinder stark !
von Michael Passolt, Dipl. Motologe und Psychomotoriker, Gröbenzell
veröffentlicht: Leitartikel im IBP-Programm 2007
Vor über 100 Jahren erfand Albert Einstein (1879-1955) die Relativitätstheorie und stellte damit Raum, Zeit und Materie auf den Kopf. Einstein gilt bis heute als Inbegriff des Forschers und Genies. Zeitlebens orientierte er sich an der Leitidee: „Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen.“ Psychomotorik entwickelt seine Arbeit an dieser Idee. Denn aus der Praxis wissen wir, dass Kinder neugierig sind; sie sind gierig nach Neuem. Sie wollen die Welt erkunden und sie fragend erforschen. Sie haben Wünsche und sie streben offen nach kreativen Lösungen. Das Spiel gehört zum Menschen. Und zum Kind gehört das Spiel. Experimentieren, Entdeckungen machen, Freundschaften schließen, all das geschieht spielerisch. „Das ewige Kind", antwortete Einstein immer, wenn er gefragt wurde, was der Grund für seine Entdeckungen war.
„Psychomotorik in der heutigen Zeit ?“
„Spielen ?“
„Sollten die Kinder nicht lieber lernen, damit sie gut für die Zukunft gerüstet sind?“
Auf dem Literaturmarkt gehören Erziehungsratgeber mit zu den meistverkauften Büchern. Sie sollen Orientierung schaffen im Dschungel von immer größerer (postmoderner) Orientierungslosigkeit. Doch ist dieser Weg, sich an Antworten zu orientieren, ein wirklich gut gehbarer? Ist nicht die Frage viel entscheidender, wie wir einen Dialog miteinander entwickeln können? Können wir mit sog. ‚Rat’-’schlägen’ nicht in eine Sackgasse geführt werden? Wenn wir nur auf Antworten warten, sind wir dann vielleicht nicht mehr sensibel genug für die Signale des Kindes, um schon im Vorfeld ‚Pädagogik’ und elterliche Kompetenz Bedeutung zu geben? Erziehung sollte für uns nicht den Blick zu ‚verziehen’ oder ‚an dem Kind ziehen’ haben. Wir entwickeln eher den Bezug auf ‚beziehen’: sich aufeinander beziehen und Beziehung herstellen. Und Beziehung fordert Dialog.
Entwicklung setzt Vertrauen voraus!
Psychomotorik stellt sich genau an diesem Punkt –im Dialog Beziehung gestalten- dem Kind. Offen für die Signale des Kindes zu sein. Schauen, auf welcher Ebene wir dem Kind begegnen können. Sind wir im Dialog mit den Kindern, so zeigen sie uns deutlich den Weg. Und kindlicher Weg ist meist das Fragende, das Neugierige, das Aktive, das Offene: „Ich will wissen!“ „Ich will selber machen!“ Es ist ein Ausprobieren, es selbst schaffen zu wollen. „Ich will!“ Kinder wollen so wie Einstein sein. Sie wollen ihren Entwicklungsraum, denn dann werden sie wie Wissenschaftler, denn einen „Wissenschaftler treibt etwas um, er ist einer Sache hinterher, er verfolgt eine Idee (…). Er ist neugierig, will es genau wissen, geht den Dingen auf den Grund und verfolgt den Menschen zurück zu Adam und Eva. Wissenschaftler sind wie Kinder (und Kinder wie Wissenschaftler), sie stellen Fragen und geben sich mit einfachen, billigen Antworten nicht zufrieden“ (Manfred SPITZER: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin: Spektrum 2002, 454).
‚Spielen’ wir in der Psychomotorik nur mit Kindern?
Ja, wir spielen mit Kindern und wir arbeiten mit ihnen an ihrer Zukunft. Wir nehmen die Sorgen der Eltern ernst. Auch wir wollen, dass die Kinder sich selbstbewusst den Anforderungen von Morgen stellen können. Dass sie einen Beruf lernen und materiell versorgt sind, eine Familie gründen können, fröhliche und glückliche Menschen werden. Was aber wird von den Kindern in der Zukunft verlangt? Wir wissen, dass Jahr für Jahr 20 neue Berufe entstehen – und bekannte Berufsbilder dafür verschwinden. Wenn wir nicht wissen, welche Berufe unsere Kinder später einmal ergreifen werden, auf was bilden wir sie eigentlich aus? Unsere Zukunft genau voraussagen zu wollen ist schlicht unmöglich – unsere Kinder und wir müssen also mit einem Schuss Ungewissheit leben, müssen offen und flexibel auf das Unerwartete (auch mit gesellschaftspolitischen Unerwartetheiten, siehe Tschernobyl oder 9/11/01) gefasst sein. Wir wissen von der Zukunft also nicht viel – doch können wir Bedingungen erkennen, unter denen unsere Kinder wachsen und lernen müssen.
Kinder müssen in der Zukunft mehr denn je selbstbewusst sein. Offen, flexibel und selbstsicher werden sie ihren Weg gehen müssen, dürfen sich nicht einschüchtern lassen, nicht bei jeder Kleinigkeit an sich selbst zweifeln. Dies bedeutet v.a., dass sie sich realistisch einschätzen lernen müssen, mit all ihren Stärken und Schwächen. Sie sollten wissen, was sie sich selbst wert sind und was sie sich zutrauen können. Dadurch lernen sie, mit Erfolg und Misserfolg gut umzugehen. Nicht zu schnell aufzugeben, sondern nach neuen Lösungen und nach Nischen zu suchen. Erfolge nicht als ‚Zufall’ zu bezeichnen, sondern sich darüber im Klaren zu sein, dass es mit einem selbst zu tun hat und dass man im Handeln Spuren hinterlässt. Die Kinder werden auch emotional –über Gestik, Mimik, Sprache- Gefühle zeigen müssen, sie werden sich interkulturell um Austausch und Verständigung bemühen müssen, um dann solidarisch und gemeinsam Probleme zu erkennen und sie gemeinsam zu lösen. Im kulturellen Miteinander wird die gegenseitige Anerkennung immer wichtiger werden. Lob, Anerkennung und Achtung werden zu einer optimistischen Grund- und Lebenseinstellung beitragen, als Basis für eine ständige Selbstveränderung. Kinder werden den Weg gehen, das Eigene zu entfalten, um ihren eigenen Weg zu finden, um eigene Lösungen für Problemthemen zu kreieren. Alvin Toffler, Zukunftsforscher, hat dies so umschrieben: „Die Zukunft verlangt nicht Millionen von Leuten, die bereit sind, monoton-technische Tätigkeiten auszuführen, sondern solche, die in der Lage sind, ihren Weg in einer neuartigen Umwelt zu finden.“
Müssen wir bange sein vor der Zukunft der Kinder?
Nein, denn wir setzen Vertrauen in die Zukunft der Kinder und wir wissen, dass die Kinder unter diesen Aspekten von Offenheit und Kreativität, Selbstbewusstsein und Handlungsaktivität sehr souverän mit jeder Art von Zeit und Anstrengungen fertig werden. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass es lernen will und dass es alles ‚Neue’ begierig aufnimmt. Schon heute sind unsere Kinder so flexibel, stellen sich so auf Anforderungen ein, dass sie wie selbstverständlich wissen, wie man mit Handys, Recordern und anderen technischen Geräten umzugehen hat – und uns Erwachsenen dies alles auch erklären und zeigen können. Nein, Angst ist wirklich keine gute Pädagogik. Und ängstlich brauchen wir auch nicht auf die Zukunft unserer Kinder zu starren. Sie werden die Zukunft schon meistern! Es besteht kein Grund, sich vor der Zukunft zu fürchten denn mit Vertrauen in die Entwicklung der Kinder werden sie dieses Vertrauen als Ressource für ihre Entwicklung nutzen.
„Wenn wir einem Kind etwas beibringen,
dann nehmen wir ihm für immer die Chance,
es selbst zu entdecken“
(Jean Piaget)
Was hat die Zukunft der Kinder mit Psychomotorik zu tun?
Wir geben Kindern Raum für innovative Ideen, originelle Lösungen und für ein Selbstbewusstsein, das kreatives Handeln ermöglicht. Psychomotorik will so Kinder stärken. Wir wollen, dass Kinder mit Spaß lernen, dass sie sich im Spiel spüren, im Miteinander sozialen Kontakt und Freundschaften erleben, dass sie ihre Zukunft mit ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten und sich dabei als Handelnde erleben. Kinder, die aktiv und tätig sind, die handelnd ihre Zukunft in die Hand nehmen, merken: Ich kann verändern. Ich kann meine Zukunft nach meinen Vorstellungen formen. Ich nehme meine Zukunft in meine Hände. Ich bin neugierig, ich bin offen, ich bin fantasievoll. Im Experimentieren und im Ausprobieren wachsen meiner Fantasie Flügel. Ich betrachte Probleme aus allen möglichen Perspektiven und ich habe Spaß daran, Lösungsmöglichkeiten zu finden.
Mit dieser Grundeinstellung brauchen Kinder nicht ‚von außen’ zum Lernen ‚motiviert’ werden. Unsere Aufgabe ist es, Kinder auf diesem Weg des ‚Wollens’, der ‚inneren Motivation’ zu begleiten, damit sie ihre Stärken erkennen und mit Lob und Unterstützung auch an Ihre Stärken glauben. Dass sie sich trauen, auszuprobieren und zu experimentieren. Wir wollen, dass die Kinder sich vertrauen und dass sie von sich überzeugt sind. In diesem Zusammenhang müssen wir ihnen Fragen nicht nur gestatten, sondern sie auffordern, Fragen zu stellen, Fragen zu formulieren, denn Fragen öffnen den Horizont. Fragen entwickeln Aktivität. Und genau das wollen wir. Wir wollen, dass die Kinder aktiv sind, kreativ, offen für alles Neue, offen für Freundschaften und Experimente, dass sie sich als Handelnde fühlen. Denn wer handelt, braucht keine Angst zu haben. Wer aktiv ist, wird merken, was er alles (verändern) kann. Aktive Menschen hinterlassen Spuren. Und sind selbstbewusst, ihres ‚Selbst’ bewusst.
„Wenn du mit anderen ein Schiff bauen willst,
so beginne nicht, mit ihnen das Holz zu sammeln,
sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.“
(Antoine de Saint-Exupery)
Auf spielerische Weise entwickelt wir in der Psychomotorik gemeinsam ein ‚Lernen macht Spaß’. Wir kitzeln die Lernlust aus den Kindern heraus, dass eine Atmosphäre entsteht, sich zu trauen, sich zu erkennen, den Blick auf sich selbst, auf das Können und Handeln, zu werfen. So wird ein positives Selbstbewusstsein aufgebaut, das Widerstände überwinden hilft, das Erfolge sichert und die Persönlichkeit entwickelt. In unserer psychomotorischen Arbeit sind wir immer wieder Zeuge solcher Veränderungen und Prozesse. Wir sind stolz, diese Erfolge kindlicher Entwicklung miterleben zu dürfen. Und Erfolge entwickeln sich auf der Basis unserer prinzipiellen Haltung: “Das Einfachste ist, dass man Kindern das Gefühl gibt, dass sie angenommen sind, dass sie wichtig sind, dass sie nicht gedemütigt werden, dass sie nicht in Schubladen gepackt werden, dass sie nicht sortiert werden, nicht nach ausgeklügelten Methoden in Leistungsgruppen separiert werden, sondern dass man einfach zulässt, dass jeder etwas besonders gut kann und sich das zunutze macht“ (Gisela JOHN, Schulleiterin der Jenaplan-Schule, Jena, in: Kahl, Reinhard: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen. Weinheim und Basel: Beltz, 2. überarb. Aufl. 2005, 83). So schließt sich der Kreis zum ‚Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung’ (BEP), der den Weg von Bildung, Lernen und Bewegung sehr eindrücklich beschreibt: „Wenn Lernprozesse an den Quellen des kindlichen Lerneifers (Neugier, Freude am Ausprobieren, Experimentieren und Entdecken) ansetzen, auf die individuell unterschiedlichen Lernbedürfnisse der Kinder (Interessen, Fähigkeiten, Vorwissen, Lernweg, Lerntempo) Rücksicht nehmen und darauf aufbauen und ihnen ihre Mitgestalterrolle zugestehen, dann steht zu vermuten, dass sie große Bildungspotentiale freisetzen. Kinder können und wissen viel mehr, als Erwachsene ihnen in der Regel zutrauen. Sie kommen auf Ideen, auf die Erwachsene nie kommen würden.“ (BAYERISCHES STAATSMINISTERIUM für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen; Staatsinstitut für Frühpädagogik München, Weinheim und Basel: Beltz 2006; 29). So sollte der Weg sein: Sich immer wieder fragen, was Kinder einem alles zeigen, sagen und erklären wollen. Dann erwartet uns ein Lernumfeld, das lebendig, offen und kreativ ist. Spaß und Freude am Lernen wird so auch zum Erlebnis für unsere Arbeit.