1. Bemerkungen zum Begriff verstehende Diagnostik

Verfolgt man die behindertenpädagogische Debatte um Diagnostik, so scheint sich dieses Gebiet in einer tiefen Verunsicherung, in einem Umbruch, ja in einer Krise zu befinden. Zumindest ist weniger denn je zuvor klar, was angemessene Diagnostik sein könnte.

Dieser Umbruch zeigt sich nicht nur auf der Ebene der fachinternen Diskussion an den Hochschulen (vgl. z.B. die Debatte in der Zeitschrift "Sonderpädagogik" 1998, Heft 2, oder Hofmann 1998), er zeigt sich auch im vorliegenden Entwurf der ICIDH 2, Beta-1-Entwurf (WHO 1998), innerhalb dessen Impairement zwar nach wie vor mit Schaden übersetzt wird, im deutschen Titel des Entwurfs jedoch statt Disability der Begriff "Aktivitäten" erscheint und statt "Handicap" der Begriff "Partizipation". In der ersten Übersetzung der WHO-Klassifikation wurde beides noch mit "Leistungsminderung" bzw. "Behinderung" übersetzt (WHO 1981). Versucht man auf der Oberfläche der Phänomene eine Hauptbewegung auszumachen, so erfolgt diese in der bundesdeutschen Sonderpädagogik von einer klassischen, normorientierten Diagnostik ausgehend über den Schritt der Förderdiagnostik hin zu einer verstehenden, subjektorientierten Diagnostik, wobei in unterschiedlicher Weise bisherige Erhebungsformen von Wissen zugleich mit der Methodenkritik verworfen werden, so von Eggert (1998) kategorisch der gesamte Bereich der psychometrischen Testdiagnostik. Teilweise treten andere Erhebungsformen an deren Stelle, so bei Eggert (ebd.) die systemisch gesteuerte Beobachtung oder bei Hofmann (a.a.O.) der Rückgriff auf eine Phänomenologie der Lebenswelt, die auf Situationsdiagnostik und Mikroökologie zielt.

Verschiedene Arbeiten sprechen direkt von einer verstehenden Diagnostik, die, so Hauschildt (1998), der in dieser Beziehung am weitesten geht, durch Intuition gelingen könne. Nicht nur hier wird der Rückgriff auf lebensphilosophische Orientierungen sichtbar, bei Hauschildt versteckt hinter einem Übergang zu Theoremen des radikalen Konstruktivismus in der von Maturana und Varela vorgelegten Form. Keineswegs alle Arbeiten gehen so weit. Jetter (1994) verweist ausdrücklich auf eine doppelte Qualifikationsstruktur, innerhalb derer der Diagnostiker über einschlägiges Wissen verfügen und für die Lebenswelt des Kindes hinreichend sensibilisiert sein müsse. Zur Kategorie des Verstehens erfahren wir aber dort kaum mehr als einen Verweis auf Wilhelm Dilthey, den Urvater der verstehenden und hermeneutischen Methode als Grundbestand der Lebensphilosophie.

Um uns dieser Kategorie zu versichern, bedarf es einen Blick in den Spiegel der Verwendung des Verstehensbegriffes in verschiedenen philosophischen Traditionen

Wir stoßen hierbei auf eine höchst zwiespältige Geschichte der philosophischen Tradition in den Fußstapfen Diltheys bzw. Nietzsches, die in ihren Leitfiguren zugleich ein für die krisenhaften Umbrüche der Moderne sensibles Verständnis entwickelte (von Nietzsche bis Heidegger und bis zur Postmoderne) und zum anderen oft den eigenen Standpunkt zur elitären Möglichkeit des Verstehens ausbaute, die nur einer ausgewählten Elite gegeben sei. Sie habe - so in der Denkweise Heideggers - das als Sein zu bewahren, was früher Gott genannt wurde (vgl. Heinrichs und Sloterdijk 2000).

Im Bereich der Diagnostik finden wir ebenso zwiespältige Vorgänger einer Sichtweise, die einerseits die Notwendigkeit des Wissens artikuliert, andererseits jedoch eine verstehende Methode einführt. Als "mehrdimensionale" Sicht finden wir eine Einheit von Erklären und Verstehen in den Werken der Gründungsväter der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Villinger und Stutte, beides auch Mitbegründer der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Jahre 1958. "Verstehen" als zentrale Kategorie ihres diagnostischen Zugriffs hinderte beide nicht, aktiv an der Zwangssterilisation behinderter Menschen durch die Nazis mitzuwirken, den ersteren nicht an der Auslese für die als euphemistisch als "Euthanasie" bezeichneten Behindertenmorde im Rahmen der Aktion "T-4" und den letzteren nicht an der Untersuchung der Wirkweise von sog. "Röntgentherapie" in hohen Dosen an geistig behinderten Menschen (vgl. Schäfer 1991, Jantzen 1993). So gelesen ging in der Tat mit dem Übergang vom Erklären zur Verstehen ein Zerstörungsprozeß der Vernunft einher (Lukács 1979, 1980, 1974)).

Natürlich hat der Verstehensbegriff auch eine andere, eine demokratische Tradition, doch scheint mir diese nur erschließbar zu sein, wenn wir uns von vornherein dem möglichen Fall eines bemächtigenden, gewaltsamen Verstehens stellen.

In ihrer gerade abgeschlossenen Dissertation skizziert Susanne Faby (2000, S. 166 - 170) diesen Akt des Verstehens als spezifische Variante paternalistischer Unterdrückung, d.h. struktureller Gewalt. Therapeutischem Handeln liegen zwei grundlegende Prinzipien zugrunde, das Prinzip der Würde und das Prinzip des Wohlergehens. Im paternalistischen Beziehungsmodell, und damit auch im paternalistischen Akt des Verstehens, steht die Wiederherstellung des Wohlergehens im Vordergrund, im partnerschaftlichen Modell der Beziehung bzw. im Akt des Verstehens steht die Wahrung der Würde im Vordergrund.

Kern einer paternalistischen Intervention ist es, ein besseres Verständnis für die Interessen des Subjekts zu beanspruchen, als dieses es selbst besitzt. Dem paternalistischen Wohltätertum unterworfene Subjekte stellen folglich in den Augen ihrer WohltäterInnen eine moralisch inkompetente Population dar. Der diagnostische Prozeß, so Faby (S. 167), mündet in die Überzeugung, die KlientIn umfassend verstanden zu haben und auch verstehen zu müssen. Er gewinnt so leicht "aggressiv-invasiven" Charakter.

Diese Art von Verstehen muß als penetrant, als Akt des Eindringens, der Penetration verstanden (so mit Bezug auf Gronemeyer 1996): "Es will in seine Gegenstände hinein, in ihre Tiefe, auf ihren Grund. Aber nicht um ihre Wahrheit zu ergründen, sondern um die eigene in sie einzupflanzen. Das invasive Verstehen besetzt seine Objekte »wie eine Armee im Feindesland«". Zugleich ist ein derartiges Verstehen Ausdruck eines profunden Desinteresses. Am Ende des Aktes steht: "Ich habe dich verträglich gemacht mit dem Stand meiner Welt- und Menschenkenntnis".

Eine solche Verstehensvariante ist jedoch erstens eine Illusion, da sie die letzte undurchdringliche Fremdheit und Einsamkeit im vertrautesten Umgang leugnet, zweites eine Bemächtigung, sie unterwirft den oder die andere unter mein Weltverständnis und drittens eine Selbstberaubung, denn sie bringt mich um die Begegnung mit Fremden.

Entsprechend groß ist die Verantwortung der WohltäterIn, die möglichst alles von der KlientIn in Erfahrung bringen muß, d.h. der diagnostische Prozeß wird tendenziell zum Akt der "totalitären Indiskretion", welcher die fundamentale Asymmetrie der helfenden Beziehung massiv verstärkt.

Mir scheint, Faby akzentuiert damit jenen Akt des Verstehens, den Franco Basaglia nach der Aufgabe des normorientierenden Ausschlusses von psychisch Kranken als neue Sackgasse kennzeichnet: als Orientierung am Bild des armen Kranken, der für alle gelitten hat, was nun wieder gut zu machen ist (1974, S. 12). An die Stelle der vorher herrschenden Gefühlskälte, die kein Kennzeichen von Vernunft ist, sondern ein "pathologisches Phänomen", so Hannah Arendt (1995, S. 65), tritt Sentimentalität, also eine "Gefühlsperversion" (ebd.), die ihrerseits durchaus auch in "tödliches Mitleid" umschlagen kann (Dörner 1989), zumindest aber in die Kriminalisierung derer, die sich der paternalistischen Definition jener sie doch so gut verstehenden WohltäterInnen nicht unterwerfen.

Diesem aristokratischen Begriff des Verstehensaktes kann nun eine strikt demokratische Position entgegengesetzt werden, in deren Zentrum die Würde des anderen steht. Ein solcher Verstehensakt ist jedoch nicht ohne die Tiefe erklärenden Wissen zu haben.

Während Heideggers gegenüber Kants Philosophie "zweite kopernikanische Revolution" das Verstehen als Form des Seins erkennt, die nur durch Zerstörung aller Wahrheiten zugänglich ist, da die Wahrheit unter der Herrschaft der gesetzgebenden Vernunft zur Lüge wird (zit. nach Bauman 1995 a, S. 8), weist Bourdieus Kritik der sozialen Vernunft (1987) darauf hin, daß jegliches Verstehen, jegliches Erfassen von sozialem Sinn immer in die historische Situation eingebunden ist, und nur durch einen reflexiven Erkenntnisakt gegenüber den in unseren Habitus tief eingeschliffenen sozialen Traditionen und Gewohnheiten realisiert werden kann. Dieser reflexive Akt der Erkenntnis bedarf jedoch seiner Verankerung in einer ethischen Grundposition des Erkennens und Anerkennens des oder der anderen (vgl. Bauman 1995 b, Dörner 2000).

Lassen Sie mich hier zunächst abbrechen, ohne die demokratische Diskussion des Verstehensbegriffs nachzuzeichnen. Es genügt an dieser Stelle der Verweis, daß wir, um uns an der Würde des anderen orientieren zu können, mit in uns eingeschriebenen Ängsten und sozialen Vorurteilen brechen müssen, so z.B. jenem Vorurteil, schwerstbehinderten Menschen komme nicht in vollem Umfang Vernunft oder Personhaftigkeit zu u.a.m., aber auch mit der sozial vermittelten Angst, einen solchen Menschen könne und dürfe man nicht als vernünftig anerkennen, es sei denn um den Preis, selbst als unvernünftig erklärt zu werden.

Obgleich wir abstrakt wollen, daß wir den anderen anerkennen, müssen wir uns im Konkreten, d.h. in der Begegnung der Art und Weise versichern, wie wir ihn anerkennend begreifen können, ohne ihn auf den Defekt oder als dankbare EmpfängerIn für unsere Wohltaten zu reduzieren. Der oder die andere wird damit zur entscheidenden Prüfinstanz für unser eigenes Handeln. Denn mein Verstehen wird immer durch die Akte des anderen bestätigt oder nicht und kann hieran von jedem Dritten abgelesen werden. Doch fehlt uns zunächst Wissen um die Geschichte und Kultur des behinderten Menschen, insofern er einerseits Ausgeschlossener und Geächteter und andererseits Mensch mit einer eigentümlichen psychopathologischen Problematik ist (vgl. Basaglia 1973, S. 151). Angesichts der Unkenntnis seiner Geschichte, die wir im Prozeß der Rehistorisierung uns selbst zu erschließen haben, werden wir zunächst von Helfern zu Hilflosen. Die Anerkennung dieser Bedingung unserer Handlungsmöglichkeit ist die wesentliche Voraussetzung für einen nicht elitären Erkenntnisprozeß in einer rehistorisierenden Diagnostik.

Ich verdeutliche dies an einem Beispiel (gekürzt aus Jantzen 1998):

Marius A. ist 40 Jahre alt und lebt ab dem 23. Lebensjahr in einer Großeinrichtung Er gilt als geistig behindert, schwer verhaltensgestört und autoaggressiv. Über lange Jahre lebt er mit anderen Bewohnern in einer Gruppe, die bezüglich der Massivität von Verhaltensstörungen als "harter Kern" der Einrichtung gilt. Obwohl er jetzt in einer neuen Gruppe ist und sich in der letzten Zeit vieles gebessert hat, kommt es noch zu Eskalationen. Schon früher hat Herr A. sich fast einmal blind geschlagen.

Nun eskaliert die Situation erneut, er schlägt phasenweise hart mit dem Kopf an die Wand, zwischen Gruppe und Medizinern besteht Uneinigkeit über die Medikation, alle sind hilflos.

In der Fachberatung mit mir sitzt Herr A. wie unterdessen üblich als Hauptbeteiligter dabei. Er wirkt verzweifelt und ist in keinem guten Zustand. Die Ratlosigkeit aller Beteiligten und ihre Angst, er könne sein Augenlicht verlieren, ist groß. Nun sitzt er in der Ecke neben mir, bewegt schnell seinen Oberkörper vorwärts und rückwärts und trinkt einen Kaffee nach dem anderen.

Aus Sorge, daß er es nicht rechtzeitig zur Toilette schaffen wird, fragt der neben ihm sitzende Mitarbeiter, ob er nicht zur Toilette gehen will? Es passiert das, wovor alle am meisten Angst haben: Herr A. schlägt sich mit der Faust ins Gesicht und mit dem Kopf hart gegen die Wand. Der Mitarbeiter versucht einzugreifen, aber es nützt nichts.

Ich überlege einen Moment sehr konzentriert, dem Mitarbeiter helfen ist die eine Perspektive, aber dies würde ihn bloßstellen - und ob es wirkt ist ohnehin eine Frage für sich. Auf der anderen Seite darf ich bei Herrn A. einen hohen Verstehensgrad unterstellen. Ich begreife seine Autoaggressionen als sinnhafte Reaktion auf die unverstandene Gewalt, die er in seinem Leben vielfältig erfahren hatte. Also sage ich "Marius. Dich schickt niemand hier weg. Wir wollen, daß du dabei bist und bleibst".

Marius A. wurde schlagartig ruhig, setzt sich wieder und trinkt weiter Kaffee. Er hatte ersichtlich die Situation mit einer früheren verwechselt. Wir lösen dann später die Situation so auf, daß wir eine Pause machen, damit er zur Toilette gehen kann.

Sie sehen an diesem Beispiel wesentliche Momente einer rehistorisierenden Diagnostik: Vor allem anderen ist diese Anerkennung der Vernunftfähigkeit des anderen in einer zu schaffenden demokratischen Situation. Durch die Teilnahme von Herrn A. war das anstaltsinterne Machtgefüge verändert, indem er gleichberechtigt mit am Tisch saß. Trotzdem war dies erst eine abstrakte Anerkennung; die konkrete Anerkennung geschah in einem Akt der Interpretation seines Handelns als vernünftig zu einem Zeitpunkt, als aus der Sicht aller anderen die immer befürchtete Unvernunft sich ihren Weg bahnte. Dadurch, daß sein Handeln von mir als vernunftgeleitet interpretiert wurde, nahm er die Verwechslung der realen Situation mit einer imaginierten und früher vielfältig erfahrenen wahr und bestätigte durch seine Handlung meine Interpretation, die er genauso gut hätte verwerfen können. Natürlich hatte ich Angst vor dem möglichen Verwerfen meiner Interpretation. Aber natürlich hatte ich auch gute Gründe, ihm ein entsprechendes Niveau des Verständnisses zu unterstellen. Doch blieb es eine Situation, in der ich mich in seine Hände begab. Ich überstehe es in meiner sozialen Position eher als er, wenn ich nicht verstanden habe und verstanden werde, wenn also mein Einwurf keinen Erfolg gehabt hätte, als er. Aber trotzdem war die Situation unverfügbar.

Nicht gesprochen habe ich bisher von der Struktur des Erklärungswissens, das mich auf der Basis eines mehrstündigen Aktenstudiums und einiger Vorinformationen durch die Gruppe, sicher genug machte, Herrn A. trotz meiner Angst Vernunft zu unterstellen.

Wie also gelangen wir nun zu einem Wissen, das uns die Äußerungen des anderen begreifen läßt, von dessen Urteil allein die Adäquatheit unseres Handeln abhängig ist?.

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