Was können wir tun?

Übergeordnete Themen

Ein zentrales Lebensthema in einem Alten und Pflegeheim ergibt sich aus folgender Einsicht: Das Sein des Menschen realisiert sich auf verschiedenen Ebenen. Auf einer übergeordneten Ebene, die aber letztlich die aktuelle Befindlichkeit ebenso prägt wie beispielsweise die grundsätzliche Einstellung zum eigenen Leben, werden  auch hier wieder aus verschiedenen (wissenschafts) theoretischen Bezügen, Forschungsrichtungen und Wissenschaftsgebäuden  Wirkfaktoren genannt, die letztlich in die gleiche Richtung weisen.
Um einige davon zu nennen:
Dass Streben des Menschen nach Autonomie und Selbstbestimmung kann als einer der "Entwicklungsmotoren" gesehen werden (Entwicklungspyschologie, vgl. OERTER/MONTADA 1997), in der Wohlbefindlichkeitsforschung (vgl. PERRIGCHIELLO 1997) ist als einer der Wirkfaktoren in bezug auf Wohlbefinden Kontrollüberzeugung anerkannt, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung sind zentrale Kategorien des "empowermentAnsatzes" (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE 1992), die "Schutzfaktoren" der Gesundheit des salutogenetischen Modells sind in Abhängigkeit zu sehen von z.B. der Überzeugung, etwas bewirken zu können (vgl. ANTONOSWSKY 1976).

Ohne hier weiter auf diese und ähnliche Ansätze eingehen zu können, sei festgehalten: Entscheidenden Einfluss auf menschliches Erleben und Verhalten hat dieses Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung, nach Selbstwirksamkeit und Kontrolle. Etwas selbst bestimmen zu können, etwas bewirken zu können, etwas beeinflussen zu können, etwas wert zu sein  das sind untrennbare miteinander verwobene Gefühle, die unser Sein bestimmen. Und die Realisierung dieser Bestrebungen wiederum ist auf einer ganz konkreten (fast banal anmutenden Ebene) unmittelbar an Tätigkeit, also an tätiges Handeln, an Bewegung gebunden. Werden denn plötzlich aufgrund (zu) vieler gelebter Jahre diese Werte auf einmal ungültig? Bedeutet die Notwendigkeit, in manchen Bereichen des Lebens Hilfe und Pflege annehmen zu müssen, auf einmal den Verlust von Würde und Selbstbestimmung?

Das leider noch all zu oft sinnentleerte Leben in einem Alten und Pflegeheim mit herkömmlichen Strukturen, die die Institutionalisierungseffekte gerade zu vorprogrammieren, trägt zu einem Abbau der Persönlichkeit, zu einem Verlust der Identität bei. Die dem Menschen eigenen Urbedürfnisse "Arbeit" und "Liebe", die zentralen Grundlagen unserer Identität, sind im Alter oder mit Erreichen der Pflegebedürftigkeit doch nicht einfach verschwunden. Sie äußern sich nur in anderen Formen als in der Phase des mittleren Erwachsenenalters und können eher mit den Begriffen "Tätigkeit" und "Nähe" (vgl. FRIEDAN, 1995) umschrieben werden  aber in der Institution Altenheim lassen sie sich kaum mehr realisieren, die Menschen "verkümmern". Das Leben in einem Alten und Pflegeheim bedeutet die Unterordnung unter die Strukturen und Regeln der Institution, wo viele der individuellen Persönlichkeitseigenschaften und Lebensgewohnheiten keine Rolle mehr spielen. Das (lebens) notwendige Recht auf Tätigsein, auf Selbstbestimmung und Autonomie, auf Selbstwirksamkeit und Würde, die Überzeugung, Kontrolle über sein Leben zu behalten oder das Erleben von Sinnhaftigkeit, was zu den zentralen "Schutzfaktoren der Gesundheit" (ANTONOWSKI 1979) zählt, sind oft auf ein Minimum beschränkt.
Zentral ist hier eine Entwicklung, in der die Menschen häufig "bewegungslos" sind (oder gemacht werden) und ihre (lebenslange) Identität hochgradig gefährdet ist. Die Bedeutungsdimensionen der Bewegung verschieben sich und sind in ihrem Gehalt verändert. So nimmt beispielsweise die instrumentelle Dimension eine zentrale Rolle ein (was in den sog. "Selbstversorgungsskalen" zum Beispiel zum Gradmesser der Pflegebedürftigkeit wird), während die erkundende Dimension fast völlig zum Erliegen kommt. Die soziale Dimension umfasst ein oft ungestilltes Bedürfnis nach Nähe bei gleichzeitigen häufigen Übergriffen auf die Intimsphäre, die sozialen Beziehungen reduzieren sich häufig auf "professionelle" und sehr einseitige Kontakte mit dem Pflegepersonal, während tiefgreifende Änderungen auf der personalen Ebene Identitätskrisen und Persönlichkeitsverlust bedeuten können. Die zentralen übergeordneten Kategorien erhalten ein enormes Gewicht, aber leider meist mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Regeln und Strukturen der Institution erschweren Möglichkeiten zu Selbstbestimmung und Autonomie, zu Selbstwirksamkeit und Kontrolle. Je pflegebedürftiger und abhängiger die Menschen in einem Alten und Pflegeheim sind (oder werden), desto schwieriger lässt sich ein Leben in Würde, Freiheit und Selbstbestimmung realisieren, obwohl doch eigentlich nur Teilbereiche der Person pflegebedürftig sind.

Es geht nicht darum, "nette Bewegungsstunden" zu machen, sondern es geht um Entwicklungsförderung, um den Menschen, um seine Identität. Die Weiterentwicklung des Menschen ist unter diesen Bedingungen, wie sie zur Zeit noch häufig in der Institution Alten und Pflegeheim vorfindlich sind, hochgradig gefährdet, sie droht, wirklich nur eine rapide Rückentwicklung zu sein und die Gefahr der Hospitalisierung in kürzester Zeit besteht nachgewiesenermaßen (vgl. GIELEN, 1996). Und das nicht, weil man alt geworden ist, sondern weil die Lebensbedingungen es einem verwehren, menschlich zu bleiben, und  trotz Pflegebedürftigkeit in Teilbereichen  so weiter zu leben, wie man es zum Menschsein braucht.

Psychomotorische Förderung im Altenheim bedeutet eine ganzheitliche, persönlichkeitsorientierte Förderung in allen diesen aufgeführten Bereichen, beinhaltet die Möglichkeit, diese lebenswichtigen Anteile im Menschen zu aktivieren, anzuregen, wieder Erfahrungen zu ermöglichen  und so ein Stück Lebensqualität zurückzubringen, das Leben immer noch lebenswert zu machen. Den Grundbedürfnissen des Menschen "Tätigkeit" und "Nähe" und dem Wunsch nach Selbstbestimmung wird entgegengekommen, denn generell durchzieht das Prinzip des tätigen Handelns alle psychomotorischen Interventionen, sind Kommunikation und Interaktion miteinander und mit den Mitarbeitern im Hause explizit Thema oder immer mitschwingendes Prinzip und wenigstens in den uns zur Verfügung stehenden kleinen Teilbereichen wird das Recht auf Selbst und Mitbestimmung gewahrt.
Idealerweise müsste der ganze Lebensalltag, die "Philosophie" des Hauses auf dieses Konzept hin zugeschnitten sein, noch sieht es aber leider in der Realität meist noch so aus, dass Motologen, Motopäden, Sozial und Bewegungstherapeuten in isolierten Stunden versuchen, diese Prinzipien umzusetzen. "Leben  statt therapeutischer Akrobatik" (GUTENSOHN 2000) : bis dahin ist es oft noch ein weiter Weg.

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