Wie sieht das Konzept der Psychomotorik im Alten- und Pflegeheim aus?
(Eine ausführliche Version erscheint in: Hammer,R./Kückendorf,: Lehrbuch Psychomotori. Dortmund. Verlag modernes Lernen (i.V.))

Lebenssituation Alten und Pflegeheim

Wir können davon ausgehen, dass es der erklärte Wunsch der meisten Menschen ist, ihre Unabhängigkeit zu behalten und selbständig in den eigenen vier Wänden zu leben. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Alten und Pflegeheimes dagegen müssen mit der Erfahrung fertig werden, dass sie es alleine nicht mehr bewerkstelligen können. Sie leben nun zwar deswegen in einem Heim, weil sie körperlich und/oder geistig ein selbständiges Leben nicht mehr führen konnten, aber ihr Bedürfnis nach selbständigem Leben ist natürlich mit den veränderten Lebensbedingungen nicht automatisch verschwunden. Sie geraten in einen schweren Konflikt: Übergeordnetes Thema ist die Aufgabe von Autonomie und Selbstbestimmung, "spürbar" in einem Körper, der vielleicht schmerzt, der vielleicht nur noch eingeschränkte Bewegung zuläßt, der das Dasein so schwer werden läßt. Jeder Mensch hat von Beginn seiner Existenz an gelernt und erfahren, dass Bewegung dazu dient, das Leben zu meistern. Nun erfährt er, dass ihm sein Körper und seine Bewegungsmöglichkeiten nicht mehr wie gewohnt zur Verfügung stehen. Bewegung und Persönlichkeit, Körper und Selbstvertrauen, Identität und Selbstbild sind so untrennbar und eng miteinander verflochten, dass die (allmählichen) Einschränkungen und Behinderungen des Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten das gesamte bisherige Leben ungültig zu machen drohen und zukünftiges Leben in Frage stellen. "Ich bin krank und alt und  nichts mehr wert": diese Schlüsse werden oft genug gezogen.
"Es geht nicht mehr"  dieser Satz bedeutet soviel mehr als nur diese Worte oder die Bewegung der Beine. Wie viel Resignation kann da mitschwingen, wie viel Trauer um Verlorengegangenes, aber auch wie viel Angst und wie viel Wut über die eigene Unfähigkeit. "Es geht nicht mehr"  diese Erkenntnis ist immer bitter, gerade weil es sich auf Dinge bezieht, die früher "gegangen" sind. Wir haben gesehen, dass in der frühen Kindheit das Gehen lernen auch heißt: "es geht". Es bedeutet Unabhängigkeit, Selbständigkeit und den Beginn einer unendlichen Reihe von Lebensabenteuern. Nun heißt es: "es geht nicht mehr". Und das bedeutet weit mehr als dass nur die Fortbewegung auf den eigenen Beinen nicht mehr möglich ist.
Sicherlich, das Eingeständnis und Zugeständnis, manches nicht mehr tun zu können, umfasst fast nie alle Bereiche, gilt nicht generell für das gesamte Leben. Aber die Gefahr ist groß, dass genau dies übersehen wird und die Resignation oder der Ärger über die nicht mehr "funktionierenden" Teilbereiche auf die gesamte Person, auf den gesamten Lebenswillen übertragen werden. So kann sich leider die Erfahrung "es geht nicht mehr" auch auf Bereiche und Persönlichkeitsanteile ausbreiten, die im Grunde davon nicht betroffen wären. Und so erfüllt sich die eigene Prophezeiung: "Es geht nicht mehr" wird zum realen, alles überdeckenden Lebensthema.

In diese sowieso schwierige Phase fällt der Einzug in ein Alten und Pflegeheim. Damit verbunden sind mit dem plötzlichen, absoluten Bruch zu dem bisher gelebten Leben die einseitige Unterordnung und Anpassung an die bestehenden Strukturen und Regeln der Institution. Die Heimordnung regelt nicht nur äußere Rahmenbedingungen (Schlafenszeiten, Essenzeiten, Waschzeiten, Gemeinschaftszeiten etc.), sondern bestimmt auch die Struktur der Beziehungen zwischen Bewohnern und Pflegekräften (es ist in eine Machtstruktur, in der die Pflegenden den zu Pflegenden sagen, was wann zu tun ist) und bestimmt indirekt das Selbstwertgefühl des Bewohners. Wir haben gesehen, dass Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und Kontrolle wirkmächtige Säulen der Identität sind, wir haben gesehen, dass sie als "Schutzfakoren" der Gesundheit nur dienen, wenn sie auch wirklich gelebt werden können  aber innerhalb der bestehenden Strukturen der Institution Alten und Pflegeheim wird ihnen kaum Raum gegeben. Und: es gibt nichts mehr zu tun! Alles wird von anderen (schneller und besser) gemacht. Selbst Anziehen, Waschen, Tischabräumen, Bettenmachen oder andere kleine, alltägliche Verrichtungen werden von anderen übernommen.

Diese Lebensbedingungen und die eigenen Krankheiten und Behinderungen, die die Pflegebedürftigkeit bedingen, münden nicht selten in Rückzug in eine innere Welt. Der Bezug zur Umwelt wird reduziert, die Teilhabe am Geschehen erfolgt häufig nur punktuell. In einer psychomotorischen Förderung können wir (vorläufig) nicht die Lebensbedingungen verändern, aber wir können dahin wirken, jedem einzelnen (auch wenn es nur zeitweilig ist) das Gefühl zu geben, lebendig zu sein, wieder einmal "da" zu sein, wieder etwas spüren  sich wieder zu bewegen. Wir müssen einen Zugang finden (der sehr individuell ist), um ihn zu erreichen , um ihm in der Einförmigkeit eines Daseins einen kleinen "Glanzpunkt" geben zu können und ihn wieder erleben lassen, wie vielfältig das Dasein sein kann  und vor allem: dass er "sich selbst" wieder spürt. Dass er erlebt, dass er doch etwas bewerkstelligen kann, dass er doch etwas bewirken kann, dass er doch etwas leisten kann, dass er doch teilhaben kann, dass er Gemeinschaft erleben kann und: dass er Freude haben kann.

Aber man darf nicht die Augen davor verschließen, dass diese Stunden "Bonbonstunden" sind, die sich aus dem normalen Alltagsleben herausheben und  so wertvoll sie auch sind  nur kleinste Erfahrungen zulassen. Psychomotorik ist von viel existentiellerer Bedeutung als dass sie nur eine einzelnen Stunde in der Woche ausmacht  sie muss das Leben bestimmen! Auch wenn hier wiederum durch die Vorgabe "Institution Alten und Pflegeheim  engen Grenzen gesteckt und hohe Mauern gezogen sind  es ließen sich viele fördernde, ganzheitliche, umfassende Umgestaltungen machen.
Vorausgesetzt ist allerdings, dass diejenigen Mitarbeiter, die am meisten Zeit mit den alten Menschen verbringen, die meist am kontinuierlichsten mit "ihren" Bewohnerrinnen und Bewohnern zu tun haben, die am unmittelbarsten mit den Bedürfnissen und Gewohnheiten, mit den Lebensäußerungen konfrontiert werden, die Altenpflegerinnen und Altenpfleger am gleichen Strang ziehen. Und dazu müssen sie  zur Zeit noch  erst einmal Wissen erwerben, Kenntnisse gewinnen. Erst ganz allmählich setzen sich in den Fachschulen in der Berufsausbildung ähnliche Erkenntnisse durch.

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