Struktur der Dinge
Alle Gegenstände haben eine "äußere" Struktur und eine "innere" Struktur. Die "äußere" Struktur bezieht sich auf die Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Welt: Wie ist die Oberfläche beschaffen? Welche Form hat der Gegenstand? Welche Farbe? Welches Gewicht? Welche Konsistenz (Beschaffenheit)? Welchen Geruch? Welche Temperatur? Welcher Geschmack?
Unsere Sinnesorgane nehmen diese Werte wahr und helfen uns, die Welt zu strukturieren. Die Augen sehen die Farbe, die Hände fühlen Oberfläche, Temperatur und Form, Hände und Arme geben uns Informationen über das Gewicht, die Nase über den Geruch und der Mund über den Geschmack. Wir sind auf diese Informationen angewiesen. Wenn die Sinnesorgane in ihrer Leistungsfähigkeit nachgelassen haben und die Meldungen unvollständig oder gar nicht mehr kommen, können wir aus der Erinnerung noch manches ergänzen (wir wissen noch, wie sich das Seidentuch angefühlt hat, auch wenn die Tastkörperchen der Finger längst nicht mehr so gut arbeiten wie früher), aber die Bilder verblassen mehr und mehr und werden zu schemenhaften Erinnerungen. Aber auch hier gilt das biologische Funktionsprinzip, nach dem Funktionen, die nicht gebraucht werden, verkümmern: Nasen, die wenig Anreiz habe zu riechen, verlieren schneller ihre Geruchsfähigkeit, Hände, die nicht mehr fühlen, verlieren schneller ihre Fähigkeit zu tasten. Darum ist es von so großer Wichtigkeit, dass wir in den Bewegungsstunden Raum geben und einplanen (und dazu immer wieder auffordern), dass die TeilnehmerInnen materiale Erfahrungen machen, dass sie bewusst wahrnehmen, was sowieso unbemerkt an Informationen an das Gehirn gegeben wird. Die Hände melden ihre Informationen über Form, Gewicht, Temperatur sowieso an das Gehirn, aber meist unterhalb der Bewusstseinsgrenze und es ist an uns, durch Bewusstmachung fördernd Einfluss zu nehmen. Alleine Bewusstmachung und damit differenziertere Wahrnehmung beinhalten schon eine ganze Menge an Fördermöglichkeiten. Psychomotorische Förderung bedeutet, dass bei jedem (neuen) Gegenstand Raum gegeben wird, die Fragen, die obiger Struktur nachgehen, zu stellen.

Und dann besitzt jeder Gegenstand eine "innere" Struktur. Sie bezieht sich auf folgendes: Zum ersten ist jeder Gegenstand (außer Naturmaterialien) von Menschen zu einem bestimmten Zweck hergestellt worden: die Klobürste zum Säubern der Toilette, der Kamm zum Kämmen der Haare, der Ball zum Spielen. Wir haben alle im Laufe des Lebens gelernt, was wofür ist und verwenden normalerweise die Dinge nach dem, wofür sie gemacht sind. Bei zunehmend desorientierten und bei dementen Menschen ist zu beobachten, dass sie die Bedeutung des Zwecks, für den die Gegenstände gemacht wurden, zunehmend vergessen und die Dinge so verwenden, wie sie sie gerade brauchen. Zum Beispiel den Kamm zum Essen ("Kartoffeln schöpfen") oder die Schuhbürste zum Tischplatte säubern. Verwirrte alte Menschen sind häufig viel offener für den zweckentfremdeten Gebrauch von Gegenständen. Was  aus Unkenntnis des Pflegepersonals  häufig belächelt oder als "verrückt" abgetan wird, sind nicht selten gerade diese anderen Formen des Umgangs mit den Alltagsdingen. Jedes Ding, jedes Objekt weckt bestimmte Assoziationen, ruft bestimmte Umgehensweisen hervor  und, wenn man offen dafür ist, eben auch andere als die gewohnten. Und wenn jemand den Kamm nicht mehr erkennt als etwas, womit nur die Haare frisiert werden, muss man ihn doch bei seiner Weise des Umgangs mit dem Kamm lassen. Vielleicht besteht er für ihn darin, ihn als Musikinstrument zu verwenden oder die Kaffeetasse umzurühren (ausgewaschen ist er schnell!). Und damit kommen wir zu der zweiten Bedeutung, die jedem Gegenstand innewohnt, wenn wir uns der "inneren" Struktur zuwenden: Jeder Gegenstand, jedes Material ist noch zu etwas anderes zu gebrauchen als nur das wofür er gemacht wurde. Und diese Möglichkeiten zu finden und auszuprobieren, sie einfach zu "machen" ist in den Bewegungsstunden möglich. Die Frage: "Was kann man noch damit machen?" ist die Aufforderung, selbst etwas auszudenken, was letztlich aus dem Material selbst entwachsen ist. Zum dritten erweckt jeder Gegenstand (auch unbewusste) Gefühle und Assoziationen, die mit beeinflussen, was passiert. Mit einem Schaumstoffball zu spielen ist nicht besonders anregend, wenn man keinen Schaumstoff anfassen mag, mit einem angewärmten Kirschkernsäckchen zu arbeiten ist bei kaltem Wetter draußen anders als an einem heißen Sommertag. Und zum vierten kann jeder Umgang mit Dingen Erinnerungen wecken. Situationen und Bilder längst vergangener Trage tauchen wieder auf, längst vergessen geglaubte Begebenheiten fallen einem wieder ein und können besprochen werden  so können auf spielerische und wirksame Weise wertvolle, lebendige Erinnerungen wieder geweckt werden. Biographisches Arbeiten wird so selbstverständlicher Bestandteil psychomotorischer Förderung.

Schon in der Auswahl der Gegenstände werden also bestimmte Weichen gelegt für das, was wahrscheinlich passieren wird. Und welche Themen sich eher mit welchen Materialien umsetzen lassen, bedürfen eben dieses Wissens um den Appellcharakter der Materialien und der subjektiven "inneren" Struktur der Gegenstände. Grundsätzlich kann und sollte mit jedem Material und jedem Gegenstand in dieser Weise gearbeitet werden und das Wissen um Appellcharakter und Struktur der Dinge in die Aktivierungs und Bewegungsstunden einfließen.

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